PROLOG
Leichter Nebel
hatte sich in der Dusche gebildet und hinterließ einen Schleier auf den
Fliesen.
Sie spürte eine
Hand, seine Hand, wie sie von ihren Hüften, über ihren Rücken bis zu ihrer
Schulter streifte. Ihr Herz machte einen Aussetzer, um dann anzufangen, wie
wild zu rasen.
Er drehte sie
mit einem Ruck herum. Einen Moment sah er sie nur an und sie starrte zurück,
ohne zu wissen was sie fühlen oder denken sollte.
Der Duft seiner
Haut stieg ihr in die Nase und ließ ihre Haut prickeln. Sie taumelte etwas
zurück und stieß mit dem nackten Rücken gegen die kalten Fliesen.
Das Wasser
floss über seinen Körper, der inzwischen ebenso gerötet war wie der ihre.
Wasserperlen
verfingen sich in seinem Bart.
Sie hatte
vergessen zu atmen, und ihre Knie wurden weich. Er schien eine Sekunde lang zu
überlegen.
Dann packte er ihren Hals und zog sie zu sich, sein Kuss
raubte ihr den letzten Sauerstoff und sie wäre umgefallen, hätte er nicht ihre
Hüften umfasst.
1. Begegnung
Wie in einem
Traum sah Morgan sich durch den Flur in Richtung Schlafzimmer gehen. Die
seltsamen Geräusche hatten sie sogar davon abgehalten, die dreckigen Schuhe
auszuziehen. Sie hatte ihren Herzschlag kaum noch wahrgenommen, als sie die Tür
öffnete und die perfekten Silikonbrüste anstarrte, die ihr Verlobter in den
Händen hielt.
Morgan fluchte
lauthals, beim Aufziehen einer Spritze schnitt sie sich an der Kanüle. Das
hatte ihr jetzt gerade noch gefehlt. Einen weiteren Fluch unterdrückend,
desinfizierte sie die kleine Wunde und klebte sich ein Pflaster darüber. Wie es
schien, war das Glück im Moment nicht auf ihrer Seite. Drei Wochen war es her,
drei verfluchte Wochen, in denen sie an kaum etwas anderes hatte denken können,
außer an diese Szene.
Zwei Jahre meines Lebens habe ich an diesen Kerl verschwendet.
Ken und sie
lernten sich kennen, nachdem sie ihr Studium abgebrochen hatte.
Gut aussehend, guter
Job, kam toll mit ihrer Mutter aus…
Eigentlich hätte ich schon da merken müssen, dass er ein Arsch ist. Welcher
normale Mensch kommt schon mit meiner Mutter zurecht?
Sie stöhnte und
versuchte sich nicht noch weiter zu quälen, doch die Erinnerung machte ihr noch
immer zu schaffen. Das Bild dieser Blondine hatte sich in ihr Hirn gebrannt.
Diese makellosen Brüste, die sich nicht einmal bewegten und die großen grünen
Augen, die sie abschätzig musterten.
„Ich glaube,
deine Freundin ist wieder da, Darling.“
War das zu glauben? Als wäre diese Frau direkt von einem Porno, auf meinen
Verlobten gesprungen. Keine Reue, keine Scham, Nichts. Außer vielleicht
Verachtung.
Sie zog die
Spritze mit einer neuen Kanüle auf und ging zu Anthony. Sie arbeitete seit mehr
als zwei Jahren in dieser Anstalt und hatte inzwischen das Gefühl, dass es eine
Art zweites Zuhause geworden war. Jeder
der Patienten schien in gewisser Weise wie ein nerviger Verwandter zu sein, der
einem zwar die Nerven raubte, ohne den es aber einfach kein richtiges
Familienfest war. Anthony war mit seinen 21 Jahren der jüngste Patient der
ganzen Anstalt, bisher hatte niemand herausfinden können, woran genau er litt.
Brain vermutete eine dissoziative Identitätsstörung oder multiple
Persönlichkeitsstörung, bei der die Wahrnehmung eine ganz andere war, als die
Realität. Die Patienten
bilden zahlreiche unterschiedliche Persönlichkeiten aus, die abwechselnd die
Kontrolle über ihr Verhalten übernehmen.
An das Handeln
der jeweils „anderen“ Identitäten kann sich der Betroffene entweder nicht
erinnern oder erlebt es als das Handeln einer fremden Person.
Morgan öffnete
seine Zelle und sah ihn an. Wie jedes Mal machte ihr Herz eine kleine Pause,
bevor sie auf ihn zuging. Anthony wusste oft nicht, wo er sich befand und
verfiel zeitweise in die Verhaltensmuster eines Babys zurück.
Unter den
Beruhigungsmitteln war er jedoch gut zu kontrollieren. Selten wurde er
aggressiv, aber wenn, dann schlug er wie wild um sich, beschimpfte alle, die
ihm unter die Augen kamen als gottlose Huren und erinnerte sich später an
nichts.
Eigentlich war
er ein netter Kerl, zumindest eine seiner Identitäten, der einfach nur bekloppt
war.
Morgan seufzte
tief, ihr Job im Saint Hollow war an so manchen Tagen unerträglich.
Wenn man sich
die ganze Zeit zwischen Menschen aufhielt, die immer am Rande eines Abgrundes
standen, konnte man sich selbst leicht bis zum Rand treiben.
Wieder eine Gemeinsamkeit mit meiner Familie.
Heute war
Anthony ruhig, sodass er sich ohne Widerstand
das
Beruhigungsmittel spritzen ließ.
Nachdem sie ihn
sauber gemacht und ihm frische Kleidung angezogen hatte, ging sie zurück in den
Pausenraum. Der Duft des frischen Kaffees hing in der Luft.
Die
Nachtschichten waren meistens ruhig.
Die Patienten
der Saint Hollow Klinik waren hoffnungslose Fälle, sie standen unter ständiger
Kontrolle und medikamentösem Einfluss. Niemand von ihnen würde je wieder einen
Fuß aus der Anstalt hinaus setzen.
Das Personal
wusste schnell, wie es sich verhalten musste und, welche Medikamente die
gewünschte Wirkung hatten. Im Zweifelsfall immer eine etwas höhere Dosis
Beruhigungsmittel und schon konnte man sich wieder der Abrechnung oder der
Inventur widmen.
So wurde es uns zumindest beigebracht. Die Patienten ruhigstellen und mit
den anderen Dingen weitermachen …
Manchmal frage ich mich, ob ich die Einzige bin der diese Menschen am Herzen liegen …
Die Anstalt war
zwar recht klein, dafür aber die Sicherste in ganz England. Gerade mal 4 Flure
mit jeweils 10 Zimmern, sodass es im
Moment nicht mehr als 35 Patienten waren.
Ab und an wurde
ein Platz frei, wenn es einer der Patienten schaffte, sich das Leben zu nehmen.
Seltener waren
die Nebenwirkungen von Medikamenten schuld, sie selbst hatte beides noch nicht
oft erlebt und war froh darüber.
Morgan rieb die
kalten Hände aneinander und betrachtete Karl. Er war einer der Pfleger und
gerade sehr vertieft in ein Sportmagazin, während er auf dem fleckigen Sofa
saß.
„Hast du denn
nichts zu tun?“, fragte sie neckend und grinste. „Doch“, antwortete Karl und
hob den Kaffee.
Sie lachte und
zog den Kittel etwas enger um ihren
Körper. Es war kalt, der Herbst hatte sich über England gelegt und brachte
nichts als Regen und Matsch.
Mit einer Tasse
Kaffee machte sie sich auf den Weg zu Brains Büro. Dieser saß müde über den Patientenakten
und lächelte
dankbar, als
sie hereinkam.
„Dr. States,
sie sehen aus, als würden sie gleich einschlafen.“
Er schüttelte
den Kopf und lehnte sich zurück.
„Ich wünschte,
ich könnte einschlafen“, murmelte er und nahm seine Lesebrille ab. „Hugh hat
gerade angerufen, heute Nacht kommt ein neuer Patient.“
Morgan zog die
Augenbrauen zusammen und setzte sich auf den viel zu unbequemen Stuhl vor dem
Schreibtisch.
„Noch heute
Nacht?“
Brain nickte
und wischte sich über die Nase.
„Anscheinend
ein gefährlicher Bursche, zumindest wollte Hugh Sicherheitsstufe 1 …“
„Wann soll er
denn kommen?“
Brain sah auf
seine Armbanduhr.
„Ich schätze in
einer halben Stunde. Soweit ich weiß hat er Schlafmittel bekommen, also gehe
ich davon aus, dass wir ihn ohne Mühe in eine der Zellen bekommen…“
„Soll ich den
Aufwachraum vorbereiten?“
Brain
schüttelte den Kopf.
„Sag Freddy und
Karl Bescheid, die sollen sich darum kümmern…“
Wieder nickte
sie und stand auf. Neue Patienten waren selten. In den Jahren, in denen sie nun
hier arbeitete, hatte es nur 5 Neue gegeben und da war die Kapazität der
Anstalt noch nicht aufgebraucht gewesen. Im Moment waren nur 2 Zellen frei, und
nur eine davon hatte die Sicherheitsstufe 1.
Sie sagte den
Jungs Bescheid und machte sich daran, ihren Rundgang zu beenden.
Alles war
ruhig, so ruhig, dass sie sich fast wünschte, es würde etwas passieren. Das war
der Nachteil bei den Nachtschichten, irgendwann wusste man einfach nicht mehr,
was man noch machen sollte, um sich wach zu halten.
Sie fragte
sich, ob Brain vielleicht noch etwas braucht.
Irgendwelche Medikamentenlisten oder Patientenakten.
Vielleicht
sollte sie ihm auch die neusten Studienberichte vorbei bringen. Sie hatte
gerade erst etwas darüber gelesen, dass die Farbe Gelb bei Gewaltopfern wahre
Wunder bewirkt haben soll.
Sie schüttelte
den Kopf, um sich selbst davon abzuhalten. Brain hatte andere Dinge zu tun und
die Nachtschichten machen ihm auch so genug zu schaffen.
Ich kann ihm die Berichte auch noch an einem anderen Tag bringen …
In Gedanken
versunken schlenderte sie über die sterilen Flure und steuerte dann auf den
Aufwachraum zu. Ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass die halbe Stunde fast vorbei
war.
Vielleicht
konnten die Jungs ja doch ihre Hilfe gebrauchen. Schon aus der Entfernung hörte
sie das laute Stimmengewirr. Sie beschleunigte ihre Schritte, doch die Stimmen
wurden lauter und verursachten ihr eine Gänsehaut, sodass sie anfing zu rennen.
Vor dem
Aufwachraum hielt sie an. Das Quietschen ihrer Schuhe über den Boden war so
laut, dass sie sich kurz schüttelte.
Sie konnte kaum
etwas erkennen. Nur dass der neue Patient anscheinend wach und nicht gewillt
war, sich von den Pflegern beruhigen zu lassen.
Scheiße, ich hasse es! Ich hätte mich nicht über die Langeweile beschweren
dürfen. Das hab ich jetzt davon. Warum passieren solche Dinge immer in meiner
Schicht?
Bevor sie in
den Raum trat, nahm sie sich eine Fertigspritze aus ihrer Kitteltasche und
umklammerte sie so fest, dass ihre Fingerknöchel hervortraten. Morgan hörte die
Pfleger fluchen. Alles, was sie sah, war das undeutliche Bild eines sehr großen
Mannes.
Sie umklammerte
die Spritze noch etwas fester. Adrenalin schoss durch ihre Blutbahn und
erschwerte ihr das Denken.
Wie kann er zwei Pfleger in Schach halten, wenn er gerade erst ein starkes
Beruhigungsmittel bekommen hat?
Ihr Atem ging
schneller während sie versuchte sich einen Überblick über die Situation zu
verschaffen.
Sie hörte
Freddy schreien und einen dumpfen Aufprall.
Wenn der Patient raus will, muss er an mir vorbei, denn ich stehe genau in
der Tür, die zum Flur führt. Komm schön her Großer, die Spritze wartet schon
auf dich …
Unruhig
verengte sie die Augen und schob die Schutzkappe von der Kanüle, sodass sie
leise klirrend auf den Boden fiel. Dann sah sie ihn.
Ein Riese von
einem Mann, seine Haare waren kurz geschoren, die Patientenkleidung hing in
Fetzen an ihm herunter und seine Hände waren dick einbandagiert. Er erwiderte
ihren Blick einen Moment, bevor er auf sie zusteuerte.
Scheiße! Ich habe etwas andres erwartet, einen Sedierten, nicht jemand der
sich bewegt wie eine Raubkatze und groß genug ist, um mich mit einem Schlag
durch den Raum zu fegen.
In ihren Ohren
rauschte es plötzlich, wie bei einem Radio bei dem man keinen Sender finden
konnte.
Er kam dichter,
während sie noch immer nicht in der Lage war sich zu bewegen oder einen klaren
Gedanken zu fassen. Die Art wie sein Blick sich durch ihren bohrte …
Karl tauchte in
ihrem Blickfeld auf und rief etwas, aber sie verstand nicht was. Der Patient
blieb kurz vor ihr stehen und starrte sie aus den fast schwarzen Augen an.
„Lass mich
durch, Kleines.“
Ihr Mund
öffnete sich leicht.
Wie hat er mich gerade genannt? Er stand so dicht vor ihr, dass sie ihn
fast riechen konnte. Mechanisch rammte sie ihm die Spritze ins Bein, pumpte ihm
das Mittel in den Körper und wich einen Schritt zurück.
Seine Augen
weiteten sich für eine Sekunde.
Er sah einen
Moment auf die Spritze, dann zog er sie heraus und warf sie auf den Boden.
...